von Hans Trachsel
»Jedes Wort zählt«, behauptet der Spielehersteller Mattel zu Recht in seiner Werbung. Erfahrene Turnierspieler gehen noch einen Schritt weiter: Jeder Buchstabe zählt. Den Beweis lieferte eindrücklich das Finale an der Deutschen Meisterschaft (DM) in Detmold: Hätte Theo Kardel das E bei seinem ÄSE weggelassen, hätte er möglicherweise den Titel geholt. Doch Ulla Trappe konnte dort 90 Punkte generieren und ist nun dreifache Deutsche Meisterin.
Superlative dürfen da getrost in Gebrauch kommen: Phantastisch, grandios, kaum zu toppen. Bei ihrer vierten Teilnahme an der DM kommt sie zum vierten Mal ins Finale. Und gewinnt den dritten Titel. Das macht ihr so schnell keine(r) nach. Herzliche Gratulation!
Es hätte anders kommen können. Theo Kardel saß der Ausnahmekönnerin zum zweiten Mal nach 2012 im Endspiel der DM gegenüber und spielte besser als damals in Nienburg, wo er Ulla zwei »Phoneys« (zum Beispiel das sattsam bekannte FÖREN) durchgehen ließ. Er lag diesmal im ersten Finalspiel weit voraus und legte dann ÄSE, wobei das E höchst risikobeladen und gänzlich unnötig war. Was zählte, waren doch die 36 Punkte für das Ä. Ein paar Züge später die Quittung: Ulla legt YENS drunter auf »Dreifach«, wobei das Y allein 80 Punkte einbringt! Und holt gewaltig auf. Zwar verliert sie das 1. Finalspiel dennoch mit 440:404, doch macht sie das im zweiten mit 460:385 locker wett und holt den 3. Titel mit total 864:825 Punkten.
Es würde nicht überraschen, wenn die Diskussion über dieses Finalspiel noch andauert. An der Tatsache wird aber kaum jemand vorbeisehen können, dass dieses E wie selten ein einzelner Buchstabe eine je nach Perspektive hoch erfreuliche oder fatale Wirkung hatte.
Ulla, die dieses Jahr einen runden Geburtstag gefeiert hat (nein, nicht vierzig, sondern zehn mehr), hat an Spielstärke nichts eingebüßt, auch wenn sie in letzter Zeit weniger Turniere gespielt hat. Sie verblüfft nach wie vor mit ihrem Wortschatz, mit Coolness und Strategie und lässt sich auch durch einem Rückstand nicht beirren. Das versuchen andere auch, doch wem fallen schon solche Geschenke zu, wie ihr in dieser wichtigen Partie? seufzt manch ein Spieler, der seit Jahren brav im Mittelfeld seine Runden dreht. Oder bin ich da etwa allein?
Im zweiten Spiel machte Ulla dann mit den Bingos BETRUGES, ENTRINDE (Neuner geöffnet, das geht, wenn man auch noch das Glück gepachtet hat), SUDELERS und SCHIEDET alles klar. Auch ihr Kontrahent im hochstehenden Duell, der Mathematiklehrer Theo Kardel, wäre ein würdiger Deutscher Meister, keine Frage. Eine scheinbare Kleinigkeit ist ihm zum Verhängnis geworden. In der Hauptrunde besiegte er Ulla mit 492:454 und war bereits vor dem 20. Spiel qualifiziert fürs Duell um die Scrabblekrone.
Ulla dagegen hatte noch den harten Kampf gegen Jörg Diersen zu bestehen. In weiser Voraussicht hatte der Vorstand von Scrabbble Deutschland e.V. die Möglichkeit eingeräumt, dass unter bestimmten Bedingungen eine zweite Begegnung zweier Spieler angesetzt werden kann. Ulla musste Jörg zweimal bezwingen, um ins Finale zu kommen. Auch wenn Jörg Diersen vor kurzem im Endspiel von Hamburg unglücklich verlor und hier das Finale nicht erreichte: Er gehört weiter zu den Besten. Ebenso der Viertplatzierte Johann-Georg Dengel, der eine bravouröse Leistung erbrachte, unter anderem mit einem hauchdünnen Sieg über die neue Meisterin.
Lauter klingende Namen zieren das erste Dutzend: Asalet Althaus, die immer wieder Exploits liefert; Nadja Dobesch die zu den vier Cracks mit vierstelliger Punktedifferenz gehört; Timon Boerner, mit 22 Jahren jederzeit zu einem großen Sieg fähig; Friedrich Engelke, der gegen Ulla hoch gewann; Claudia Aumüller, die nach missratenem Beginn toll aufholte; Maria Feige, erneut vorne dabei und bisher die Einzige, die Ulla im DM-Finale besiegen konnte; Dorothea Delpino, die nach schwierigen Jahren wieder kräftig powert und Bärbel Gettys, die dynamische Kämpferin, die sich mit Theo jederzeit auf höchstem Niveau duellieren kann.
Es war eine gelungene DM im Teutoburger Wald, ein Hauen und Stechen wie vor 2000 Jahren, doch kamen die 66 Wortkünstler(innen) ohne Blutvergiessen aus. Sinnigerweise bekam die Meisterin nebst einem Barbetrag eine Statue von Hermann, dem Cherusker, der um 9 n. Chr. die Römer besiegte und so die Eingliederung von Germanien ins Römerreich ein für allemal verhinderte. »Endlich ein Mann für Ulla«, getraute sich einer zu sagen, was sie gewohnt prägnant mit »Ja, genau« quittierte. Die beiden Männer auf den Medaillenrängen dürfen sich über eine wohlgeformte Thusnelda, die seinerzeitige Gefährtin von Hermann, freuen.
Und jetzt sind alle gespannt, wer nun genau am Duell der 24 Champions im Juli in Hannover teilnehmen darf oder kann. Dort werden die Karten neu gemischt. Titelverteidigerin ist die Wiener Gymnasiallehrerin Liesbeth Schön, die eine gute DM zeigte. Ben Berger, der für die DM absagen musste, tritt dort an, Ulla dagegen ist verhindert. Alle sind nach der DM erst recht gespannt, wann und wo die beiden Cracks wieder einmal aufeinandertreffen werden.
Ergänzend zu diesem Bericht: Friedrich Engelke, der bereits das Finale von Hamburg zwischen Ben Berger und Jörg Diersen akribisch analysierte und überzeugend darlegte, wie Jörg den greifbar nahen Sieg hätte ins Trockene bringen können, meinte unmittelbar nach dem Ausgang des Finales an der 6. DM: „Ich bin begeisterrt! Zwei großartige Finalspiele mit Pfeffer und Salz. Spannung, Hochstimmung und Frust liegen so nahe beieinander. Unvergesslich die Schlusszüge: Beide spielen Bestzüge der besonderen Art: Hier wird aus der Restbank ADIMMR zunächst vorbereitend DAR und anschließend – verdreifacht MIM mit DAR zu DARM gelegt (Ulla mit zusammen 34 Punkten!); dort (Theo mit Restbank HLNUT) zunächst aus NÖ »nur« NÖL und dann, wiederum dreifach, HUNT mit NÖL zu NÖLT, bringt zusammen 42 Punkte – eine Versechsfachung der Buchstabenwerte!!) – das ist »Scrabble vom Feinsten« und das zum Abschluss von zwei Stunden intensivsten Finalspiels – Chapeau!«