Regelkunde aus der Praxis

Von | 20. März 2019

Während im Finale von St. Gallen Nadja frühes NITRINS* vom Brett gezweifelt wurde, blieben Bens nicht in der Wörterliste aufgeführten Formen UNGESEHN* und OCKERM* liegen und trugen entscheidend zu seinem Erfolg bei.

Dass beide Züge unangetastet blieben, ist jedoch nicht so verwunderlich, wenn man weiß, dass die scheinbar analog gebildeten Formen GESEHN und LOCKERM zulässig sind.
Wohl niemand im Saal hätte ohne Nachschlagen sicher sagen können, dass es sich um „Phoneys“ handelt und auch noch die passende Begründung liefern können.
Manch einer vermutete nach dem Endspiel Fehler in der Wörterliste, und erst ein genaueres Nachschlagen in den ORZ und den Duden-Werken brachte Licht ins Dunkel.

Regel II 5.1 g) erlaubt die E-Tilgung beim Partizip II von Verben, deren Stamm auf Vokal oder Vokal+h endet; hierdurch ist GESEHN erlaubt. UNGESEHEN ist aber kein Partizip eines im Duden notierten Verbs; insofern ist hier die Regel für Adjektive auf -en anzuwenden; und hier gilt nach 5.2 b), dass die E-Tilgung nur bei einer Deklination erlaubt ist, also wenn der Stamm verlängert wird. Somit existiert keine Regel, nach der UNGESEHN* zulässig ist.

Bei OCKERM* lag eine einfache Erklärung auf der Hand, sind doch viele Farbadjektive nicht beugbar. Doch – und das war wohl beiden Finalisten klar – wird die Beugbarkeit für „ocker“ in II 4.6 b) explizit bejaht. Aber was unterscheidet OCKERM* dann von LOCKERM? 5.2 c) regelt die E-Elisionen bei Adjektiven auf -er. Hier werden die E-Elisionen, die zu Formen wie LOCKREM und LOCKERM führen, nur für deutschstämmige Adjektive erlaubt. Das als „griechisch“ markierte „ocker“ teilt somit das Schicksal des englischen „clever“ und muss nicht um seine „e“ bangen.